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wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
Zurück zu den Wurzeln - Haus IsraEL :: Wissenschaft :: Forschung und Schöpfung :: Fossilien, Bibel und unsere Zeit
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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09.05.14 Eiserner Zugang zu ersten Stoffwechselreaktionen? In Modellen zur Entstehung des Lebens wird nach Hinweisen gesucht, ob die genetische Information oder Stoffwechselreaktionen für eine erste Phase von größerer Bedeutung sind. Die uns bekannten Zellen als kleinste Einheiten von Lebewesen benötigen immer beides und noch viel mehr. Liefern die hier vorgestellten chemischen Reaktionen wirklich neue Einblicke in Prozesse, die zu ersten Zellen führen? Lebende Systeme – von einfachen Zellen bis zu komplexen vielzelligen Organismen – sind u.a. dadurch charakterisiert, dass sie Biomakromoleküle enthalten, mit deren Hilfe sie Information speichern, replizieren und nutzen können, und Stoffwechsel betreiben. Durch vernetzte chemische Reaktionsabläufe werden in Zellen Nährstoffe umgewandelt, zum Teil in Komponenten, die am Aufbau der Zelle beteiligt sind. Dabei werden auch nutzbare Energie und Reduktionsäquivalente gewonnen. In Diskussionen über den Ursprung des Lebens werden häufig Positionen einander gegenübergestellt, in denen entweder die zeitliche Priorität der informationsspeichernden Nukleinsäuren oder die des Stoffwechsels behauptet wird. Alle bekannten Lebewesen – ohne Ausnahme – weisen aber gleichzeitig beides auf und wir haben Leben bisher nie anders kennengelernt! Die Glykolyse und der Pentosephosphat-Zyklus sind zwei im Stoffwechsel bedeutsame Reaktionsabfolgen. Die beiden Reaktionsabfolgen ermöglichen es den allermeisten Lebewesen, Kohlenhydrate abzubauen bzw. sie zu verwerten. Keller et al. (2014) haben mit einer von ihnen etablierten Analysenmethode (Flüssigkeitschromatographie mit einem Massenspektrometer gekoppelt; LC-MS) 12 phosphathaltige Zuckerkomponenten in wässrigen Lösungen bei erhöhter Temperatur untersucht. Zunächst untersuchten die Autoren jede der 12 Verbindungen in reinem Wasser bei 70°C nach 5 Stunden. Unter diesen Bedingungen wandeln sich manche der untersuchten Chemikalien in andere um – sie zerfallen. Die gebildeten Zersetzungsprodukte lassen den Rückschluss zu, dass 17 Reaktionsschritte abgelaufen sind, die auch an der Glykolyse und am Pentosephosphat-Zyklus beteiligt sind. Wenn Keller und Mitarbeiter das reine Wasser durch simuliertes Ozeanwasser ersetzten, fanden sie 28 Reaktionen, die in den beiden genannten biochemischen Reaktionszyklen auch stattfinden. Um Ozeanwasser zu simulieren, wurden reinem Wasser verschiedene Metallsalze zugefügt. Wenn Eisen (Fe) als zweiwertiges Eisen (Fe2+) zugefügt und der Sauerstoffgehalt (O2) stark verringert wurde, konnten sogar 29 verschiedene Reaktionen nachgewiesen werden. Unter diesen Bedingungen liefen alle nachgewiesenen Reaktionen im Vergleich zu höherem O2- Gehalt und Fe3+ sehr viel schneller ab, es ergaben sich also höhere Reaktionsgeschwindigkeiten. Die phosphathaltigen Zuckerverbindungen wurden in den Versuchen in Konzentrationen eingesetzt (100 µM), die typischerweise etwas geringer sind als die Konzentrationen der Verbindungen in Zellen. Unter Bedingungen mit simuliertem Ozeanwasser wurden insgesamt 12,3 % des gesamten Kohlenstoffs (C) aus den Ausgangsstoffen in Stoffwechselprodukte der Glykolyse und des Pentosephosphat-Zyklus umgewandelt; 37,6 % waren in Form der eingesetzten Ausgansstoffe erhalten geblieben und 51,1 % lagen nach der 5-stündigen Reaktionszeit in nicht identifizierter Form vor, also als Verbindungen, die im betrachteten Zusammenhang keine Rolle spielen sollten. Wurde das Eisen im simulierten Ozeanwasser als Fe2+ eingesetzt und O2 stark verringert, dann fanden sich 11,9 % des C in neu gebildeten phosphathaltigen Zuckerverbindungen, 49,9 % der Ausgangsverbindungen lagen nach 5 Stunden bei 70°C noch vor und 38,2 % in Form von nicht identifizierten Stoffen. Die Autoren bezeichnen die Bedingungen mit Fe2+ und nur Spuren von O2 als urzeitlich („Archean ocean“). Nun mag diese Studie unter bestimmten Gesichtspunkten interessant sein, aber wenn z.B. Luisi (2014) in einem begleitenden Kommentar zu der Arbeit von Keller et al. von „einem enzymfreien, stoffwechselähnlichen Reaktionsnetzwerk“1 schreibt, dann handelt es sich dabei vornehmlich um suggestive Formulierungen. Etwa 12 % des eingesetzten C lässt sich in phosphathaltigen Verbindungen nachweisen, die durch thermodynamisch begünstigte Zerfallsreaktionen aus den Ausgangsverbindungen entstanden sind. Bis zur Hälfte des C wird dagegen in nicht relevante Verbindungen umgewandelt. Der von Keller et al. verwendete Begriff der Spezifität ist durch nichts in dieser Untersuchung gerechtfertigt (vielleicht am ehesten noch im Blick auf die Wirkung von Fe2+ mit wenig O2 im Vergleich zu Fe3+ bei normalem O2-Gehalt). Da von möglichst reinen Substanzen ausgegangen wird, sind viele Nebenreaktionen überhaupt nicht im Blickfeld; über Spezifität kann also gar keine Aussage gemacht werden. Ob die gebildeten phosphathaltigen Verbindungen in Gegenwart von vielen anderen Verbindungen überhaupt entstehen und unter den gewählten Bedingungen stabil sind, ist zu bezweifeln. Die elementare Frage nach der Synthese (und Aufreinigung zu den erforderlichen Konzentrationen) der in dieser Studie eingesetzten Ausgangsstoffe ist darüber hinaus völlig offen. Wir haben derzeit keine plausible Erklärung, woher diese kommen könnten. Überhaupt scheint die Diskussion, ob Nukleinsäuren oder Stoffwechsel zuerst entstanden sind, das eigentliche Problem gar nicht im Fokus zu haben. Wir benötigen für die einfachsten bekannten lebenden Zellen beides und noch viel mehr! Und wir kennen derzeit weder für eine ungesteuerte Synthese von Nukleinsäuren noch für die Entstehung einfacher, vernetzter stoffwechselähnlicher Reaktionssysteme eine Erklärung, in der nur die bekannten Naturgesetze, ohne weitere – notwendige – Randbedingungen eine Rolle spielen. Eine Besprechung der Arbeit von Keller et al. auf der Internetseite eines populärwissenschaftlichen Journals (Osterkamp 2014) wird mit folgenden Worten eröffnet: „So viel ist klar: Leben ist nichts als eine kurze, regelmäßig aus sich selbst heraus wiederholte Phase geordneter chemischer Reaktionen auf engem Raum; diesen nennt man dann gewöhnlich ‚Lebewesen‘; im einfachsten Fall auch schlicht ‚Zelle‘.“ Mit derart stark reduktionistischen Konzepten werden „geordnete chemische Reaktionen“ als „Leben“ definiert. Das Explanandum2 wird auf diese Weise kurzerhand wegdefiniert – eine Vorgehensweise, mit der in den Naturwissenschaften kein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Anmerkungen 1 „In their recent work Keller et al. (2014) observe an enzyme-free, metabolism-like reaction network under conditions reproducing a possible prebiotic environment.“ 2 Das zu Erklärende Literatur Keller MA, Turchin AV & Ralser M (2014) Non-enzymatic glycolysis and pentose phosphate pathwy-like reactions in a plausible Archean ocean. Mol. Syst. Biol. 10, 725; DOI: 10.1002/msb.20145228. Luisi PL (2014) Prebiotic metabolic networks? Mol. Syst. Biol. 10, 729; DOI 10.1002/msb.20145351 Osterkamp J (2014) Das Henne-Ei-Problem von der Entstehung des Lebens. http://www.spektrum.de/alias/chemische-evolution/das-henne-ei-problem-von-der-entstehung-des-lebens/1283602 | ||
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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05.06.14 Rippenquallen – eine Welt für sich Die Untersuchung des Erbguts der Seestachelbeere (Pleurobrachia bachei; Ctenophora, Rippenquallen) sowie Daten zur Transkription aus zehn weiteren Rippenquallen-Arten bestätigten frühere Deutungen, wonach die Rippenquallen aus evolutionärer Perspektive zu den ursprünglichsten Tieren gehören und ihr komplexes Nervensystem unabhängig vom Nervensystem anderer Tiere entstand. Evolutionsbiologen zeigen sich über die Ergebnisse überrascht. Die Befunde können verschieden interpretiert werden, jede evolutionstheoretische Deutung aber wirft schwerwiegende ungelöste Fragen auf. In der Diskussion um Schöpfung und Evolution wird häufig behauptet, es gebe keine Befunde, die die Evolutionsanschauung in Frage stellen würden, und die Evolutionstheorie1 werde laufend bestätigt. Das hört sich gut an, aber vermutlich würde man sich kaum darauf verständigen können, was überhaupt widersprechende Befunde wären. Die zweite Behauptung, es gebe immer wieder Bestätigungen, kann man hingegen besser überprüfen, weil Biologen wiederholt Erwartungen formuliert haben, die sie aus der Evolutionstheorie abgeleitet haben. Eine solche Erwartung war, dass ähnliche komplexe Organsysteme nicht zweimal unabhängig entstehen könnten. Nicht umsonst gelten (komplexe) Ähnlichkeiten als Hinweise auf gemeinsame Abstammung und bilden die Basis für Stammbaumrekonstruktionen. So wird Leonid Moroz, Neurowissenschaftler an den Universität von Florida, bezüglich der Entstehung des Nervensystems zitiert: „Jeder ist der Auffassung, dass diese Art von Komplexität nicht zweimal auftreten könne, aber dieser Organismus legt nahe, dass es doch passiert ist“ (Callaway 2014).2 Die Rede dabei ist von der Rippenqualle Pleurobrachia bachei, bekannt als Seestachelbeere, und darüber hinaus vom ganzen Tierstamm der Rippenquallen (Ctenophora). Moroz bezeichnet diese ungewöhnlichen Organismen als „Aliens, die auf die Erde gekommen sind“ (Callaway 2014). Rippenquallen sind Prädatoren (Räuber) des Meeres und bewegen sich mit Hilfe eines Bündels von Cilien fort. Ihre Beute fangen sie mit innervierten Tentakeln, die von klebrigen Zellen (sog. Colloblasten) gesäumt sind, und verschlingen sie mit ihren Mund, dem sich ein sackartiger Darm anschließt. Die Rippenquallen besitzen ein Nervennetz mit regionalen Spezialisierungen, darunter Sinnesorgane für Lichtrezeption und die Schwerkraftempfindung. Es ist auch bei der Wahrnehmung der Beute und der Bewegung der Muskultur im Einsatz. Das Nervensystem ist es, das für die Überraschung seiner mutmaßlich zweimaligen unabhängigen Entstehung sorgt. Schon die Untersuchung des Genoms der Rippenqualle Mnemiopsis leidyi hatte nahelegt, dass das Nervensystem der Rippenquallen unabhängig vom Nervensystem anderer Tiere entstanden sei (Ryan et al. 2013). Dafür gibt es zwei Gründe: Die Rippenquallen müssen aufgrund von Gen- und Proteinvergleichen an die Basis des Tierreichs gestellt werden, und nicht – wie zuvor angenommen – die einfacher gebauten Schwämme (Porifera) und Plattentiere (Placozoa), die kein Nervensystem besitzen. Und zweitens, das Nervensystem der Rippenquallen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von dem aller anderen Tiere mit Nervensystem. Beides wurde nun durch die Entschlüsselung des Genoms der Seestachelbeere Pleurobrachia bachei bestätigt, sowohl die basale Position der Rippenquallen als auch die großen Unterschiede in ihrem Nervensystem gegenüber anderen Organismen. Einige Bespiele dafür: Viele der sonst vorhandenen Komponenten des Nervensystems (Regulationsgene, Strukturgene, Signalmoleküle) fehlen bei der Seestachelbeere. Während in fast allen sonstigen Nervensystemen dieselben zehn primären Neurotransmitter im Einsatz sind, nutzt Pleurobrachia deren nur einen oder zwei. Außerdem stellte sich heraus, dass einige biologisch aktive molekulare Substanzen, die bei anderen Organismen spezifisch für Nervenzellen sind, bei der Seestachelbeere zwar auch vorkommen, aber überraschenderweise nicht in Nervenzellen, sondern in anderen Geweben genutzt werden (Moroz et al. 2014, Hejnol 2014). Bemerkenswert ist weiter, dass Pleurobrachia weder microRNA besitzt (bei den meisten anderen Tieren ein wichtiger Teil der Genregulation) noch die bei anderen Tieren wichtigen Hox-Gene (die u. a. eine Schlüsselrolle bei der Formung der Körperachsen spielen). Für die evolutive Einordnung der Rippenquallen ergibt sich aus der Befundsituation ein Trilemma: 1. Die zweimalige unabhängige Entstehung des Nervensystems widerspricht bisherigen Erwartungen im Rahmen evolutionstheoretischer Deutungen (s. o.). Es ist ohnehin unbekannt, wie ein Nervensystem evolutiv entstanden ist; nun ist man damit konfrontiert, dass dies zweimal unabhängig geschehen sein muss. 2. Es kann alternativ auch angenommen werden, dass ein Nervensystem nur einmal entstanden ist und die Schwämme und Plattentiere es (samt anderen Merkmalen) wieder verloren haben. Diese Sichtweise steht vor dem Problem, weshalb ein derart nützliches komplexes Organsystem komplett aufgegeben worden sein sollte. 3. Es ist nicht endgültig gesichert, dass die Rippenquallen tatsächlich an der Basis des evolutionären Tier-Stammbaums stehen. Früher waren die Rippenquallen und die Nesseltiere aufgrund mancher Gemeinsamkeiten zu den Hohltieren zusammengefasst worden. Das Nervensystem könnte auch in diesem Fall nur einmal entstanden sein. Da aber die Nervensysteme von Rippenquallen und anderen Tieren wie dargestellt in vielerlei Hinsicht verschieden sind, stellt sich dann die Frage, wie und warum der enorme Umbau des Rippenquallen-Nervensystems in das Nervensystem der anderen Tiere erfolgte. Hejnol (2014) versucht in seinem Kommentar aus dem Bock einen Gärtner zu machen und meint, die neue Sicht von der unabhängigen Entstehung zweier unterschiedlicher Nervensysteme sei ein Schlag gegen die anthropozentrische Sicht, dass komplexe Merkmale allmählich entstanden seien, was schließlich mit der Entstehung des Menschen gipfelte, und dass komplexe Merkmale nicht zweimal evolvieren würden. Aber so einlinig funktioniere Evolution nicht, sondern sei ein Prozess, der in allen Linien voranschreite. Der Kommentar ist sehr erhellend. Aus ihm geht hervor, welche grundsätzlichen Unterschiede bezüglich des Grundverständnisses von Evolution innerhalb der Evolutionsbiologen existieren. Die Behauptung, Evolution führe zu einem Wandel mit ähnlichen komplexen Resultaten in verschiedenen Linien, ist gewagt und beruft sich auf Vorgänge, die bislang niemand kennt und nicht durch Faktenwissen gestützt ist. Und weshalb soll die Erwartung, dass komplexe Organsysteme nicht zweimal entstehen, anthropozentrisch sein? In Wirklichkeit wurde diese Erwartung aus der Kenntnis der bislang ermittelten Evolutionsmechanismen abgeleitet und propagiert (s. o.); diese Erwartung wurde hier enttäuscht. Wenn eine Organismengruppen wie die hier vorgestellten Rippenquallen trotz vieler Gemeinsamkeiten klar von anderen abgrenzbar sind und keine natürlichen Mechanismen bekannt sind, wie diese Grenzen evolutionär überbrückt werden können, muss dies als schwerwiegendes Problem innerhalb des evolutionsbiologischen Forschungsprogramms auch so benannt werden. Unabhängig davon besteht als Alternative die Deutungsmöglichkeit, dass die Grenzen primär existierten, d. h. nicht die Folge einer wie auch immer gedeuteten Evolution, sondern Folgen einer Schöpfung sind. Literatur Callaway E (2014) Jelly genome mystery. Nature 509, 411. Hejnol A (2014) Excitation over jelly nerves. Nature, doi:10.1038/nature13340. Morot LL, Kocot KM et al. (2014) The ctenophore genome and the evolutionary origins of neural systems. Nature doi:10.1038/nature13400. Rokas A (2013) My oldest sister is a walnut? Science 342, 1327-1329. Ryan F, Pang K et al. (2013) The genome of the ctenophore Mnemiopsis leidyi and its implications for cell type evolution. Science 342, 1242592, doi: 10.1126/science.1242592 Anmerkungen 1 zum Begriff: hier gemeint als Abstammung aller Lebewesen von andersartigen Vorfahren. 2 „Everyone thinks this kind of complexity cannot be done twice,“ Moroz says. „But this organism suggests that it happens“ (Callaway 2014). | ||
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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07.07.14 Von Anfang bis heute fast unverändert: Programmierter Zellabbau Die molekularen Bestandteile, die dem programmierten Zellabbau (oder Zelltod, Apoptose) zugrunde liegen, sind zwischen Mensch und Koralle austauschbar. Aus evolutionsbiologischer Perspektive muss ein erstaunliches Ausmaß an evolutionärem Stillstand (Stasis; Konservierung) postuliert werden. Ausgerechnet unter den basalen und damit als stammesgeschichtlich sehr alt geltenden Vielzellern findet sich das vielseitigste Apoptose-System. Ein wichtiger formbildender Prozess in der Ontogenese ist der programmierte Zellabbau, also das physiologische (nicht krankhafte), programmierte Absterben von Zellen (Apoptose). Während es z. B. beim krankhaft bedingten Zelltod in der Regel zu einem unkontrollierten Aufquellen und Zerplatzen der Zelle oder zu einer unkoordinierten Zerstörung von Eiweißen oder Zellorganellen kommt (Nekrose), geschieht die Auflösung der Zellbestandteile und ihr Abbau im Rahmen der Apoptose hochgradig organisiert und physiologisch gesteuert. Apoptose dient damit immer dem Erhalt oder der koordinierten Entwicklung des Organismus. Beispielsweise werden Gewebestrukturen zwischen den ontogenetischen Anlagen von Fingern und Zehen kontrolliert zum Abbau gebracht oder durch die Auflösung der Zellen von Glaskörper und Linse wird die Lichtdurchlässigkeit der Augenlinse ermöglicht. Aber auch im ausgewachsenen Organismus spielt Apoptose eine wichtige Rolle, z. B. in der Kontrolle der Zellzahl und der Größe von Geweben, bei der Entfernung entarteter Zellen oder bei der Rückbildung der Gebärmutter nach der Geburt. Bei der Apoptose werden Nachbarzellen bzw. -gewebe durch austretende Gifte wie im Fall des o.g. krankhaft bedingten Zelltodes nicht geschädigt. Es ist schon länger bekannt, dass die molekulare Basis der Apoptose hochkonserviert ist, das heißt, sie ist bei sehr verschiedenen Organismengruppen sehr ähnlich, was evolutionstheoretisch so interpretiert wird, dass dieser Mechanismus stammesgeschichtlich sehr früh entstand und anschließend nicht mehr nennenswert verändert wurde. In einer neuen Untersuchung wiesen amerikanische Wissenschaftler (Quistada et al. 2014) nach, dass Apoptose auch bei riffbildenden Korallen vorkommt. Diese gelten im Rahmen der Evolutionsanschauung als Repräsentanten einer der ältesten Tiergruppen. Es zeigte sich, dass alle wesentlichen Komponenten des Apoptose-Programms bei Korallen vorhanden sind und denen des Menschen gleichen. Dabei spielen die Tumornekrosefaktor (TNF)-Superfamilien (TNFRSF/TNFSF) eine zentrale Rolle. Die Wissenschaftler untersuchten 53 Proteine der TNFRSF- und TNFSF-Familien in der riffbildenden Koralle Acropora digitifera und stellten große Sequenzähnlichkeiten mit den entsprechenden Proteinen des Menschen fest, besonders bezüglich der aktiven Zentren dieser Eiweiße. Ein Vergleich mit der Taufliege Drosophila ergab, dass in dieser Linie im Gegensatz zur Linie zum Menschen wichtige Teile der TNF-Superfamilie fehlen, was evolutionstheoretisch als Verlustentwicklung interpretiert wird. Zuvor war angenommen worden, dass die Zahl der Mitglieder der TNF-Superfamilie nach der Trennung der Linie der Wirbeltiere von der der Wirbellosen zugenommen habe. Nun hat sich herausgestellt, dass im Gegenteil die Korallen das vielseitigste Repertoire der TNF-Superfamilien besitzen. Die große Ähnlichkeit der molekularen Komponenten des Apoptose-Prozesses bei Korallen und Menschen wurde eindrucksvoll demonstriert durch die Einführung eines menschlichen TNF (HuTNFα) in die Korallen. Es zeigte sich, dass es direkt an die Korallen-Zellen bindet, dadurch die Caspase-Aktivität erhöht, was (über eine Kaskade von Prozessen) zur für die Apoptose typischen Bläschenbildung und zum Zellabbau führt. (Capsasen sind Enzyme, die Proteine durch Hydolyse abbauen und bei der Apoptose eine besondere Rolle spielen.) Umgekehrt führte ein TNF von Korallen (AdTNF1) bei menschlichen Zellen zu einem signifikant häufigeren physiologisch hervorgerufenen Zelltod. TNF von Korallen und Menschen sind also austauschbar. Beispiele wie der zelluläre Apoptose-Mechanismus zeigen einerseits ein erstaunliches Ausmaß an Konservierung eines zellulären Prozesses und seiner Bestandteile; in evolutionstheoretischer Interpretation muss ein Stillstand bezüglich der Evolution dieses Mechanismus von mindestens 550 Millionen Jahren angenommen werden. Andererseits werfen sie aber auch die Frage auf, wann und wie ein solcher Mechanismus überhaupt evolutiv entstand. Denn wenn er offenkundig nicht nennenswert veränderbar ist, wie sollen dann hypothetische Vorstufen in irgendeiner Weise funktional und damit existenzfähig sein? Die Daten zeigen einmal mehr: Abruptes Auftreten und dann weitgehend Konstanz eines zentralen biologischen Struktur- und Funktionsgefüges. Literatur Quistada SD, Stotlanda A et al. (2014) Evolution of TNF-induced apoptosis reveals 550 My of functional conservation. PNAS early ed, doi: 10.1073/pnas.1405912111 | |
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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14.07.14 Linsenaugen der Tintenfische und Wirbeltiere: Molekulare Konvergenzen Die Linsenaugen von Tintenfischen und Wirbeltieren sind hinsichtlich ihres optischen Grundaufbaus erstaunlich ähnlich, aber aus evolutionsbiologischer Sicht sollen sie dennoch auf verschiedenen Wegen entstanden sein (Konvergenz). Vergleiche wichtiger Regulationsgene der Augenentwicklung zeigen ebenfalls große Ähnlichkeiten bei diesen Tiergruppen, so dass auch auf molekular-genetischer Ebene Konvergenzen angenommen werden müssen. Wie diese Ähnlichkeiten auf morphologischer und genetischer Ebene durch bekannte Mechanismen entstehen konnten, ist unklar. Unter Annahme von Evolution muss unerwartet gefolgert werden, dass die Entstehung der Linsenaugen in stammesgeschichtlich getrennten Linien auf zufällig identischen Bildungsprozessen beruht. Das Linsenauge von Tintenfischen und Wirbeltieren ist ein Lehrbuchbeispiel für Konvergenz, das heißt für eine unabhängige Entstehung ähnlicher Konstruktionen in unterschiedlichen stammesgeschichtlichen Linien. In evolutionstheoretischer Interpretation heißt das: Ausgehend von Vorläuferformen, die kein Linsenauge besaßen, wurde auf getrennten Abstammungswegen aus einem einfachen Auge jeweils ein Linsenauge evolutiv entwickelt. Neben vielen Gemeinsamkeiten wie Augenlid, Hornhaut, Linse, Glaskörper, Iris oder Netzhaut weisen die beiden Linsenaugen-Typen bei Wirbeltieren und Tintenfischen aber auch einige deutliche Unterschiede auf. Beispielsweise entstehen die Augen in der Embryonalentwicklung auf verschiedene Weisen, die Netzhaut ist unterschiedlich konstruiert und die Versorgung und Entsorgung der Netzhautzellen ist unterschiedlich organisiert. Daher ist unstrittig, dass man beide Augen nicht als abstammungsverwandt (d. h. homolog) interpretieren kann, auch wenn die fertigen Konstruktionen insgesamt ähnlich sind. Kürzlich wurde jedoch in einer Studie gezeigt, dass tiefgreifende Ähnlichkeiten zwischen Linsenaugen von Tintenfischen und Wirbeltieren auf genetischer Ebene vorliegen (Yoshida et al. 2014). Zum Verständnis dieser Untersuchungen muss etwas ausgeholt werden. Regulation durch Genschalter und „Gen-Verschaltungen“. Interessanterweise werden sehr viele Augentypen – seien sie so verschieden wie ein einfaches Becherauge, ein Komplexauge von Insekten, ein Spiegelteleskopauge oder ein Linsenauge – in ihrer embryonalen Entwicklung auf überraschend ähnliche Weise genetisch gesteuert. Das heißt: An der Spitze der genetischen Kaskade für eine individuelle Augenentwicklung im Organismus stehen bei Augen verschiedenster Arten sehr ähnliche Gene. Berühmt ist das Masterkontrollgen Pax-6 (bzw. auch als eyeless bei Insekten bezeichnet). Ohne Pax-6 kein Auge – bei fast allen Augen im Tierreich: Wirbeltieren, Insekten, Tintenfischen u. v. m. Aber natürlich macht Pax-6 alleine noch kein Auge; beim Menschen werden bei der Bildung des Auges etwa 2500 nachgeschaltete Gene genutzt; diese Gene werden aber erst aktiviert, wenn Pax-6 „angeschaltet“ wird. Pax-6 aus Wirbeltieren bzw. eyeless bei Fliegen sind so ähnlich, dass sie auch im jeweils anderen Organismus nach dessen Umtausch funktionieren. Das wurde in einem berühmten Experiment gezeigt: Eine Fliege bildete Augenstrukturen, nachdem einer Taufliegenlarve das Pax-6 einer Maus eingepflanzt wurde (Halder et al. 1995). Natürlich war das entstandene Auge ein insektentypisches Komplexauge und kein Linsenauge, denn das Pax-6 ist sozusagen nur der „An-Aus-Schalter“, genau wie das Fliegengen eyeless. Außer Pax-6 sind bei verschiedenen Tiergruppen noch weitere ähnliche Gene am Beginn der Augenentwicklung aktiv (s. u.). Es gehört zu einer der faszinierendsten Entdeckungen der Biologie, dass hier und bei vielen anderen Organen auch quer durchs Tierreich mit sehr ähnlichen genetischen Schaltern gearbeitet wird. Wichtig zum weiteren Verständnis ist auch die Beobachtung, dass ein und dasselbe Gen mehrfach genutzt werden kann. Das heißt: In Abhängigkeit von zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen wird ein Gen anders eingesetzt. (Auch hier bieten die Augen ein berühmtes Beispiel. Die Proteine zum Aufbau der Augenlinse sind sonst „gewöhnliche“ Enzyme im Zellstoffwechsel.) Gene werden bekanntlich in Proteine „übersetzt“. Dabei gibt es den Zwischenschritt einer Umschreibung der DNA in messenger RNA (mRNA). Nach dieser Umschreibung (Transkription) wird die mRNA noch „überarbeitet“ (sog. „processing“), d. h. es werden noch einige Stücke (sog. Introns), die nicht für Protein codieren, herausgeschnitten. Die verbleibenden codierenden Stücke (sog. Exons) werden wieder verknüpft und damit die fertige mRNA gebildet. Dieser Vorgang wird als „Spleißen“ bezeichnet. Erst danach erfolgt die Übersetzung der auf der gereiften mRNA vorhandenen genetischen Informationen in Proteine (Translation). Das Spleißen kann nun bei einem Gen auf unterschiedliche Weisen erfolgen, so dass zum Beispiel bestimmte Exons einmal mit entfernt werden oder in der fertigen mRNA verbleiben. Somit ist dasselbe Gen eine Vorlage für mehrere Genprodukte (nach dem Spleißen). Man spricht von Spleißvarianten eines Gens, verschiedene codierende Genabschnitte wurden unterschiedlich verschaltet – hier zeigt sich ein ausgeklügeltes System zur Mehrfachnutzung von Genen, was als Design-Indiz interpretiert werden kann. Was hat dies mit den Linsenaugen von Tintenfischen und Wirbeltieren zu tun? Es ist schon länger bekannt, dass bei der Ausbildung des Wirbeltierauges am Beginn der Entwicklungskaskade vier Pax-6-Spleißvarianten genutzt werden, durch die jeweils andere nachgeschaltete Gene während spezifischer Zeitpunkte reguliert werden. Die Spleißvariante Pax-6(5a) hat zum Beispiel eine besondere Rolle bei der Bildung der Iris nach der Geburt und ist auch unverzichtbar für die korrekte Ausbildung von Hornhaut, Linse und Netzhaut. Der Einsatz der verschiedenen Spleißvarianten ist, wie oben erwähnt, zeitlich und räumlich verschieden. Dagegen wird bei Insekten nicht ein Gen unterschiedlich gespleißt, sondern bei ihnen sind mehrere, leicht unterschiedliche Pax-6-Gene (Duplikate) im Einsatz. Die genetisch abgelegten Spleißvarianten bei Wirbeltieren sollen sich evolutiv aus nur einem Pax-6 entwickelt haben und durch Neuverschaltung mit den untergeordneten Genen jeweils neue und spezifische Aufgaben übernommen haben. Yoshida et al. (2014) fanden nun heraus, dass bei den Linsenaugen der Tintenfische genau wie bei den Wirbeltieraugen verschiedene Spleißvarianten von Pax-6 genutzt werden, und zwar insgesamt fünf, jedoch keine Duplikate wie bei den Insekten. Da sich die Spleißvarianten von denen der Wirbeltiere unterscheiden, schließen die Forscher, dass sich die Pax-6-Spleißvarianten der Tintenfische evolutionär unabhängig entwickelt haben. Erstaunlich ist aber, dass die unterschiedlichen Pax-6 Varianten wie bei den Wirbeltieren erzeugt werden, nämlich durch Spleißen, und dass sie genau wie die vier Spleißvarianten der Wirbeltiere bei der Augenentwicklung genutzt werden. Kommentar. In evolutionstheoretischer Deutung muss dieser Befund auf eine konvergente Entstehung auf molekular-genetischer Ebene zurückgeführt werden. Das ist eine erstaunliche und unerwartete Konstellation, auch wenn die jeweiligen Spleißvarianten verschieden sind. Denn die erstmalige Entstehung einer neuen funktionalen Spleißvariante und insbesondere ihre Neuverschaltung mit anderen, nachgeschalteten Genen – zudem in mehrfachem Kontext, wie das oben genannten Beispiel Pax-6(5a) zeigt – ist schon an sich bei einmaliger Entstehung keine Kleinigkeit und dürfte viele Teilschritte erfordern, die aufeinander abgestimmt sein müssten. Wie das über bekannte Variationsprozesse möglich sein könnte, ist kein Gegenstand des Artikels von Yoshida et al. (2014) und mit gegenwärtigem Wissen vermutlich auch nicht beantwortbar. Darüber hinaus sollen evolutionär sowohl bei den Wirbeltieren als auch bei den Tintenfischen mehrere Spleißvarianten entstanden und in die Gesamtregulation der frühen Augenentwicklung eingebunden worden sein. Diese evolutionären Entwicklungsschritte müssten mehrfach konvergent bei Tintenfischen und Wirbeltieren abgelaufen sein. Yoshida et al. (2014) schildern in ihrem Artikel ihre Befunde in einer Weise, als sei die Entstehung und Einbindung der Spleißvarianten ein selbstverständlicher evolutionärer Prozess. Das hat sich zwar allgemein eingebürgert, dennoch muss in solchen Fällen immer wieder auf zwei Dinge hingewiesen werden: 1. Vergleichend-biologische Analysen – wie die von Yoshida et al. (2014) durchgeführten vergleichend-molekularen Untersuchungen – ermöglichen keine Aussage über die Mechanismen, die zu den beobachteten Ähnlichkeiten und Unterschieden geführt haben. Man kann an dieser Stelle höchstens mehr oder weniger gut begründbare und damit immer hypothetische Mechanismen vorschlagen. 2. Unter der Voraussetzung von Evolution kann gefolgert werden, dass es einen evolutiven Weg gab; ob er aber mechanistisch plausibel ist oder gar experimentell nachvollzogen werden kann, muss eigens untersucht werden. Das experimentell belegte Wissen über Neuverschaltung von Genen ist bislang – gemessen am Erklärungsziel – kaum vorhanden (vgl. Rebeiz et al. [2011] und die Zusammenfassung ihrer Ergebnisse bei Junker [2012]). Wie also Neuverschaltungen von Spleißvarianten des Pax-6-Gens bei Tintenfischen und Wirbeltieren zustande kamen (so sie denn überhaupt evolutionär entstanden sind), bleibt ungeklärt. Literatur Halder H, Callaerts P & Gehring WJ (1995) Induction of ectopic eyes by targeted expression of the eyeless gene in Drosophila. Science 267, 1788-1792. Junker R (2012) Wieviel Evolution ist durch Kooption möglich? Genesisnet-News, http://www.genesisnet.info/index.php?News=189 Rebeiz M, Jikomes N, Kassner VA & Carroll SB (2011) Evolutionary origin of a novel gene expression pattern through co-option of the latent activities of existing regulatory sequences. Proc. Natl. Scad. Sci. 108, 10036-10043. Yoshida M, Yura K & Ogura A (2014) Cephalopod eye evolution was modulated by the acquisition of Pax-6 splicing variants. Sci. Rep. 4:4256, doi: 10.1038/srep04256 | ||
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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15.09.14 Evolution vom Wasser ans Land: Gar nicht so schwer? Lebewesen sind in der Lage, auf Umweltänderungen durch Veränderungen im Bau, in der Physiologie oder im Verhalten zu reagieren (Plastizität). Das Erbgut enthält also Variationsprogramme, die bei Bedarf abgerufen werden. Diese Fähigkeit machten sich Forscher zunutze und ließen lungenatmende Flösselhechte (Polypterus) auf Land aufwachsen. In der ungewohnten Umgebung zeigten die Fische als plastische Reaktion veränderte Verhaltensweisen und Änderungen im Bau einiger Knochen, die auf dem Land eine Verbesserung der Fortbewegung ermöglichen. Könnte diese plastische Fähigkeit in der angenommenen Evolution von Fischen zu Vierbeinern eine wichtige Rolle gespielt haben? Lebewesen haben die faszinierende und anspruchsvolle Fähigkeit, sich unterschiedlichen Umweltbedingungen individuell anpassen zu können. Bestimmte Umweltreize können Veränderungen im Körperbau, in der Physiologie oder im Verhalten auslösen, die das Überleben ermöglichen oder erleichtern. Das Erbgut wird dabei nicht geändert, vielmehr sind im Erbgut Variationsprogramme verankert, die bei Bedarf abgerufen werden können. Diese Fähigkeit nennt man Plastizität („Formbarkeit“), im deutschen Sprachraum wird auch der Begriff Modifikation verwendet. Plastizität gehört sozusagen zur Standard-Ausstattung von Lebewesen. Ein typisches Beispiel ist die Bildung von Hornschwielen an Händen oder Füßen aufgrund verstärkter mechanischer Beanspruchung der Haut. Plastizität und Evolution. In der Evolutionsforschung hat das Phänomen Plastizität in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gefunden. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob plastische Reaktionen das Potential beinhalten könnten, zu evolutionären Neuheiten zu führen. Auf den ersten Blick erscheint das wenig plausibel, denn plastische Änderungen sind keine Merkmale, die erst neu erworben wurden, sondern gehören bereits zum Repertoire der Lebewesen. Dennoch lautet eine Idee in Bezug auf Evolution wie folgt: Unter extremen Umweltbedingungen könnten aufgrund einer plastischen Reaktion Merkmale ausgeprägt werden, die sonst nicht zum Vorschein kommen und Ansätze zu einer weitergehenden Evolution darstellen könnten. Doch mehr als eine Idee ist dieser Ansatz bisher nicht. Flösselhechte als Modell. Eine Forschergruppe hat diese Idee kürzlich angewendet auf die Frage, wie aus Fischen Vierbeiner geworden sein könnten (Standen et al. 2014). Es sind hierzu zwar einige Fossilien bekannt, doch liefern diese kaum Information zur Beantwortung der Frage, wie die zahlreichen für diesen Übergang notwendigen Änderungen abgelaufen sein könnten. Dazu machten die Forscher nun Versuche mit dem Senegal-Flösselhecht (Polypterus senegalus). Flösselhechte gelten als urtümliche Strahlflosser-Fische, die an der Basis des Strahlflosser-Fisch-Stammbaums stehen, also unweit der Abzweigung der Fleischflosser, zu denen die mutmaßlichen Landwirbeltiervorläufer gehören. In gewissem Sinne stehen sie also den vermuteten ersten Landgängern nahe. Flösselhechte besitzen eine paarige Lunge, die zugleich als Schwimmblase fungiert, und sind zur Luftatmung befähigt. Sie leben zwar fast ausschließlich im Wasser in krautigen Uferbereichen, können aber an Land überleben und von einem Wasserloch zum nächsten gelangen. Das schaffen sie, weil sie sich mit Hilfe ihrer kräftigen Brustflossen auf Land fortbewegen können und in der Lage sind, ihren Kopf etwas anzuheben. An dieser Fähigkeit knüpften die Wissenschaftler an. Sie zogen die Fische acht Monate lang außerhalb des Wassers auf und machten dabei bemerkenswerte Beobachtungen: Im Vergleich zur im Wasser aufgezogenen Kontrollgruppe setzten die Fische ihre Flossen näher an der Körpermitte auf und machten kürzere Schritte, wodurch sie weniger abrutschen. Außerdem hielten sie ihren Kopf höher und bewegten Flossen und Schwanz weniger, was die Fortbewegung verbessert und Energie spart. Das veränderte Verhalten sei wahrscheinlich durch das häufige Üben erlernt, so die Forscher. Noch erstaunlicher sind Veränderungen in der Anatomie. Schlüsselbeine und Cleithrum (ein Knochen des Schultergürtels von Knochenfischen und einiger Vierbeiner) waren verlängert, wodurch der Platz zwischen dem Kiemendeckel und der Flosse vergrößert wird, was der Flosse mehr Bewegungsraum verleiht. Dies stellt ein typisches Beispiel von Plastizität dar. Interessanterweise schwimmen die auf Land aufgezogenen Fische nicht schlechter als die im Wasser aufgezogene Kontrollgruppe. Die bei den Flösselhechten beobachteten Veränderungen ähneln den Ausprägungen bei einigen fossilen Formen, die als Vorläufer der Landwirbeltiere diskutiert werden (s. u.). Daher spekulieren die Forscher, dass auch bei diesen Formen zur Zeit des Devons (vor ca. 400 Millionen radiometrischen Jahren) die beim Flösselhecht beobachtete phänotypische Plastizität eine Rolle gespielt haben könnte. Ein Beitrag zur Erklärung von Makroevolution? Das Experiment von Standen et al. (2014) liefert interessante Ergebnisse. Es erinnert an ein unfreiwilliges Experiment mit einer Ziege, die von Geburt an nur Vorderbeine hatte, es aber lernte damit umzugehen, was ebenfalls auch anatomische Veränderungen zur Folge hatte (Slijpers Ziege; Beschreibung z. B. bei West-Eberhard 2005, 611). Kirschner & Gerhart (2005) nennen diese Fähigkeit von Geweben und Organen, auf äußere Reize flexibel reagieren zu können, „exploratives Verhalten“. Explorative Systeme sind „antwortend“, d. h. sie reagieren auf äußere Signale. Allerdings entstehen dadurch keine neuen Bauelemente und keine sonstigen Neuerungen wie z. B. neue Muskelansatzstellen oder neue Knochenelemente. Zur Einschätzung der möglichen Bedeutung von Plastizität für Evolution, insbesondere zur Frage, wie evolutionäre Neuheiten entstehen könnten (Makroevolution), sollen nachfolgend einige Aspekte zusammengestellt werden: • Die Änderungen betreffen keine Neuheiten, sondern sind Variationen vorhandener Konstruktionselemente und Verhaltensweisen. Die Flösselhechte besaßen anfangs bereits die Fähigkeit, auf Land zu gehen und auf Land zu überleben. Über den Ursprung dieser Fähigkeit geben die Experimente keinen Aufschluss. • Die Fische würden das experimentell hervorgerufene Verhalten in ihrem natürlichen Lebensraum nicht zeigen. Dort graben sie sich bei Wasserknappheit in den Schlamm. Das im Experiment erzwungene Verhalten der Tier im wurde unter natürlichen Bedingungen noch nicht beobachtet. • Standen et al. (2014) ziehen Vergleiche der Knochenveränderungen mit dem fossilen Quastenflosser Eusthenopteron und mit den Tetrapoden (Vierbeinern) Acanthostega und Ichthyostega, die zu den ältesten Tetrapodengattungen gehörten. Eusthenopteron war ein reines Wassertier und seine Merkmalsausprägungen sind daher kaum geeignet, eine beginnende Landanpassung zu belegen. Ähnliches gilt auch für Acanthostega. Dieser war zwar ein Vierbeiner und besaß acht Finger, wird bisher aber aufgrund verschiedener anatomischer Merkmale ebenfalls als ausschließlich im Wasser lebend interpretiert (Clack 2002, 124). Aussagekräftiger ist dagegen der Vergleich mit Ichthyostega, da diese Gattung sehr wahrscheinlich auch an Land ging und klassisch als das „erste Amphibium“ gilt. Dennoch: Ichthyostega war sehr ungewöhnlich konstruiert mit stark überlappenden Rippen und ist in dieser und anderer Hinsicht ganz einzigartig gebaut (Ahlberg et al. 2005). Diese Autoren betrachten Ichthyostega als eines von mehreren kurzlebigen evolutionären Experimenten; diese Gattung wäre daher ebenfalls kein idealer Kandidat für eine Modellierung des Übergangs von Wasser ans Land. • Für die anatomischen Veränderungen, die fossilen Formen entsprechen, welche als Vorläufer der Vierbeiner diskutiert werden, gibt es eine funktionelle Notwendigkeit. Die Ähnlichkeiten sind daher wenig überraschend. • Für einen Übergang vom Leben im Wasser zu einem Leben an Land sind zahlreiche sehr viel grundlegendere Änderungen notwendig als die hier vorgestellte Plastizität, die bei den Flösselhechten beobachtet wurde. • Hutchinson (2014) weist darauf hin, dass Flösselhechte trotz ihrer Plastizität keine landlebenden Nachfahren haben. • Ob die plastisch aufgetretenen Merkmale bei Polypterus an die Nachkommen weitergegeben werden, ist derzeit nicht geklärt; das soll eine Fortsetzung des Experiments über mehrere Generationen zeigen. Plastische Änderungen gehen bei Wegfall der betreffenden Bedingungen wieder verloren; sie müssen im Laufe vieler Generationen fixiert werden, um evolutive Bedeutung zu erlangen. Ob dies bei Polypterus möglich ist, ist nicht bekannt; Pennisi (2014) meint, das sei ein „Geheimnis“. • Zahlreiche Studien zur Plastizität der Lebewesen zeigen übereinstimmend, dass es einen Trend von anfangs hoher Plastizität in Richtung verringerter Plastizität gibt (Überblick bei Junker 2014). Diese Beobachtung machten die Forscher auch bei den außerhalb des Wassers aufgezogenen Flösselhechten: Ihre Gehbewegungen weisen eine verringerte Variabilität auf (Standen et al. 2014, 56). Interessant wird hier sein, welche Tendenz sich bei den geplanten Mehr-Generationen-Experimenten zeigen wird. • Der Ursprung der Plastizität ist hier, wie auch in anderen Fällen unbekannt (Hutchinson 2014); klar ist aber, dass sie im normalen Lebensraum der Flösselhechte nützlich sind. Schlussfolgerungen. In der Tagespresse wurden die Befunde zur Plastizität der Flösselhechte teilweise stark überbewertet. Eine der Überschriften lautete: „Evolution in acht Monaten: Wie Fische laufen lernen“.1 Was bisher Theorie gewesen sei, sei nun in der Praxis ansatzweise nachgewiesen worden. Das ist irreführend und auch keineswegs die Aussage des Originalartikels. Standen et al. (2014, 54) schreiben vielmehr: „Unsere Resultate eröffnen die Möglichkeit, dass umweltinduzierte Entwicklungs-Plastizität die Entstehung der Land-Merkmale, die zu den Vierbeiner führten, erleichtert haben.“2 Ob sie wirklich zu dieser Entstehung beigetragen haben, ist angesichts der oben genannten Befunde und Probleme mehr als fragwürdig. Anmerkungen 1 http://www.ruhr-lippe-marktplatz.de/news/artikel/detail/20143454-evolution-in-acht-monaten-wie-fische-laufen-lernen.html 2 „Our results raise the possibility that environmentally induced developmental plasticity facilitated the origin of the terrestrial traits that led to tetrapods.“ Literatur Ahlberg PE, Clack JA & Blom H (2005) The axial skeleton of the Devonian tetrapod Ichthyostega. Nature 437, 137-140. Clack JA (2002a) Gaining Ground. The origin and evolution of tetrapods. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press. Hutchinson J (2014) Dynasty of the plastic fish. Nature 513, 37-38, doi:10.1038/nature13743. Junker R (2014) Plastizität der Lebewesen: Baustein für Makroevolution? W+W Special Paper B 14-2. www.wort-und-wissen.de/artikel/sp/b-14-2-plastizitaet.pdf Kirschner MW & Gerhart JC (2005) The Plausibility of Life. Resolving Darwin's Dilemma. New Haven and London. Pennisi E (2014) Fish raised on land give clues to how early animals left the seas. http://news.sciencemag.org/biology/2014/08/fish-raised-land-give-clues-how-early-animals-left-seas. Standen EM, Du TY & Larsson HCE (2014) Developmental plasticity and the origin of tetrapods. Nature 513, 54-58; doi:10.1038/nature13708 West-Eberhard MJ (2005a) Phenotypic accommodation: Adaptive innovation due to developmental plasticity. J. Exp. Zool. 304B, 610-618. | ||
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Zuletzt von Eaglesword am Fr 19 Dez 2014, 22:54 bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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30.09.14 Tetrapyrrole – Biokatalysatoren der ersten Stunde? Zahlreiche Schlüsselfunktionen im Ablauf von physiologischen Vorgängen heutiger Organismen werden von zyklischen Molekülen übernommen, die als Tetrapyrrol-Makrozyklen bezeichnet werden. Daher besteht großes Interesse an der Formulierung einer schlüssigen Hypothese für deren Abiogenese (=erstmalige Entstehung auf physikalisch-chemischem Weg, ohne Voraussetzung von Leben). Bisherige Versuche der Simulation von Vorgängen, die zur Bildung dieser Verbindungen geführt haben sollen, ergeben jedoch keine gute Basis für ein plausibles Modell der erstmaligen Bildung von Tetrapyrrol-Makrozyklen. Relevanz von Tetrapyrrol-Makrozyklen Aufgrund ihres häufigen Vorkommens in unterschiedlichen biochemischen Funktionseinheiten, ihrer auffälligen Geometrie und der faszinierenden chemischen und physikalischen Eigenschaften sind Tetrapyrrole seit langem Gegenstand intensiver Untersuchungen. Zu den bekanntesten Beispielen gehören die Aufklärung der Struktur des grünen Blattfarbstoffs Chlorophyll (Willstätter & Fischer 1913) und des „roten Blutfarbstoffs“ Hämoglobin (Fischer & Zeile 1929). Bei Tetrapyrrolen handelt es sich um flache (planare), ringförmige Moleküle, die aus vier gleichen Untereinheiten zusammengesetzt sind. Zu den in der Natur am häufigsten vorkommenden Makrozyklen dieses Typs zählen Porphin 1, Chlorin 2 und Corrin 3 (Abb. 401). Aufgrund ihrer Stabilität kommen diese Verbindungen in größerer Menge in Sedimenten, Kohle und Erdöl vor (Schaeffer et al. 1993). Ihre ringförmige Struktur ermöglicht das Binden bestimmter Metallionen (Abb. 401), die einen Radius von 60-70 pm aufweisen (z. B. Mg2+ im Chlorophyll oder Co2+ im Vitamin B12). Größere Metallionen wie Pb2+ (Blei), passen nicht ins Zentrum der cyclischen Verbindungen, während zu kleine Ionen wie Be2+ (Beryllium) oder Al3+ (Aluminium) nicht fest gebunden werden. Verbindungen aus Tetrapyrrolen und Metallionen werden als "Komplexe" bezeichnet und spielen bei zahlreichen physiologischen Vorgängen in Organismen eine zentrale Rolle. Für die Photosynthese ist das Chlorophyll (Mg2+-Porphyrin-Komplex) als Bestandteil des Lichtsammelkomplexes unverzichtbar. Der Sauerstoff-Transport im Blut vieler Lebewesen erfolgt durch das Hämoglobin, ein Enzym, in dessen Zentrum ein Fe2+-Porphyrin Komplex als Bindestelle für molekularen Sauerstoff fungiert. Weitere wichtige Funktionen von Metall-Tetrapyrrol-Komplexen sind die Beteiligung an Entgiftungsprozessen in der Leber (Monooxygenasen) und der Elektronentransport in der Atmungskette (Q-Cytochrom-c-Oxidoreduktase und Cytochrom-c-Oxidase). Das Vorkommen porphinoider Ni2+-Komplexe bei Archaebakterien gilt als Indiz dafür, dass diese Verbindungen bereits in einem frühen Stadium der angenommenen schrittweisen Lebensentstehung eine wichtige Rolle gespielt haben könnten (Eschenmoser 1988). Der Weg zur Entstehung von Tetrapyrrolen galt jedoch lange Zeit als ungeklärt. In den vergangenen Jahren hat die Forschungsgruppe um Lindsey Hypothesen für die präbiotische Entstehung dieser Verbindungen auf der Basis von experimentellen Untersuchungen etabliert (Lindsey et al. 2009, Lindsey et al. 2011). Analyse der Plausibilität des Modells zur Biogenese von Tetrapyrrol-Makrozyklen Schon die gezielte Laborsynthese von Porphin 1 (Abb. 401) stellte bis vor kurzem noch eine beträchtliche Herausforderung dar. Im Jahr 1959 wurde eine Porphin-Synthese mit einer Ausbeute von mageren 5% in einer Publikation des Journal of Organic Chemistry beschrieben (Krol 1959). Vermutlich galten deshalb experimentelle Arbeiten zu Hypothesen über die präbiotische Entstehung dieser Verbindungen lange als wenig attraktiv. Erst im Jahr 2007 gelang es der Arbeitsgruppe um Lindsey, den Magnesium-Komplex Mg-1 des Porphins in einer Ausbeute von 30% herzustellen (Lindsey 2007). Allerdings handelte es sich dabei um eine reine Laborsynthese, die für eine Diskussion potentieller präbiotischer Vorgänge ungeeignet ist. Der erste Versuch, eine Entstehung von Tetrapyrrol-Verbindungen unter als präbiotisch bezeichneten Bedingungen zu simulieren, wurde von Mauzerall durchgeführt (Mauzerall 1960). Bei diesen Versuchen wurde jedoch eine organische Verbindung (Porphobilinogen PBG) eingesetzt, deren abiogenetische Entstehung nicht als gegeben betrachtet werden kann. Zudem wurde nur eine Vorstufe (Uroporphyrinogen III, Abb. 403) der physiologisch relevanten Makrozyklen Porphin 1, Chlorin 2 und Corrin 3 erhalten. In einer Reihe von aktuellen Publikationen beschrieb die Gruppe um Lindsey nun Ergebnisse ihrer experimentellen Arbeiten, die eine mögliche Lösung für das zuerst genannte Problem der früheren Arbeiten (Entstehung von PBG) darstellen sollen. Als Rahmenbedingungen für die Simulationen wurden eine anaerobe Atmosphäre, die Abwesenheit von Enzymen und das Vorhandensein höherer Konzentrationen an Aminolävulinsäure (ALA) und eines β-Ketoesters (KE) (Reaktion I, Abb. 402) oder eines 2,4-Diketons (1‑AcOH) (Reaktion II, Abb. 402) in einer wässrigen Lösung angenommen. ALA wurde als Ausgangsverbindung in den Experimenten gewählt, da dieses Molekül auch in der Biosynthese (in lebenden Zellen) stets der Ausgangspunkt für die Bildung von Tetrapyrrol-Makrozyklen ist (Marks 1966). Auf diese Weise sollte demonstriert werden, dass heutige physiologische Vorgänge ihren Ursprung in chemischen Reaktionsabläufen ohne Beteiligung von Enzymen haben. Allerdings sind weder KE noch 1-AcOH in der Biosynthese von Porphyrinen involviert. Diese Verbindungen wurden bei den Simulationsexperimenten eingesetzt, da die Kondensation von ALA mit sich selbst ohne Steuerung durch Enzyme hauptsächlich zum Dihydropyrazin (DHP) führt und nicht zum PBG (Reaktion III, Abb. 402). Die Reaktionsbedingungen wurden hinsichtlich der Parameter Temperatur (70-100 °C bzw. 28-85 °C), pH-Wert (5-7) und Konzentration der Reaktionspartner (2-40 mM bzw. 5-240 mM) variiert, um zu belegen, dass diese Reaktionen keiner allzu spezifischen Bedingungen bedürfen (robuste Reaktion). Bei den durchgeführten Reaktionen konnte in einer maximalen Ausbeute von 10% der Makrozyklus Uroporphyrinogen III (Abb. 402) als Gemisch mit einigen Nebenprodukten erhalten werden. In diesen Versuchen wurde folglich die spontane Organisation von acht einfachen, acyclischen Molekülen zu einer relativ komplexen Verbindung (Tetrapyrrol) nachgewiesen. Nach Ansicht der Autoren eignen sich diese Befunde als Indiz für die Plausibilität der spontanen Selbstorganisation von Katalysatoren, metabolischen Zyklen und Vorläufern von Photosynthese-Systemen. Gemäß Lindsey handelt es sich bei der untersuchten Reaktion um ein beeindruckendes Beispiel der Selbstorganisation von acht acyclischen Molekülen (4 x ALA + 4 x KE oder 4 x ALA + 4 x 1-AcOH) zu einem Tetrapyrrolgerüst (Lindsey 2011). Allerdings deutet die Ausbeute von maximal 10% an, dass die Reaktion nicht der hauptsächlich ablaufende Prozess ist. Die tatsächliche Hauptreaktion ist die Polymerisation. Zudem ist mit diesen Befunden keinesfalls der Nachweis für die Abiogenese von Tetrapyrrolen erbracht, die in den bereits erwähnten biologischen Funktionseinheiten vorkommen. Bei allen beschriebenen Experimenten wurde kein Protoporphyrin IX (Abb. 402) erhalten, sondern nur die metabolische Vorstufe Uroporphyrinogen III (Abb. 403). Für die Weiterreaktion zum Protoporphyrin IX (unmittelbare Vorstufe vom Häm bzw, Chlorophyll) wären noch einige weitere Schritte notwendig, darunter vier regioselektive Decarboxylierungen und zwei Oxidationsschritte (Abb. 403). Diese Reaktionen verlaufen in Zellen in unterschiedlichen Kompartimenten und unter Beteiligung von Enzymen. Besonders die Katalyse der Decarboxylierungen durch das Enzym Uroporphyrinogen III-Decarboxylase erweist sich als spektakulär, denn die Beschleunigung der Reaktionsgeschwindigkeit beträgt 6 x 1024 M-1. Es handelt sich dabei um die effizienteste Reaktionsbeschleunigung durch ein Enzym, die bisher bekannt geworden ist (Lewis 2008). Das bedeutet aber auch im Umkehrschluss, dass die entsprechende unkatalysierte Reaktion extrem langsam ist. Folglich ist dieser Vorgang auf die Katalyse angewiesen. Dazu passt auch der Befund (With 1975), dass die unkatalysierte Decarboxylierung nur unter sehr harschen Bedingungen abläuft (200 °C, 5 min). Auch die darauf folgenden Oxidationen von Coproporphyrinogen III und Protoporphyrin IX sind unter den von Lindsey gewählten Bedingungen problematisch, da in Gegenwart oxidierender Reagenzien die Ausgangsverbindung ALA nicht beständig wäre. Überhaupt ist die chemische Verbindung ALA nur bei niedrigem pH-Wert (2.3) und unter anoxischen Bedingungen wenige Monate haltbar. Auch Lindsey und Mitarbeiter berichteten, dass diese Verbindung bei einer Temperatur von -15 °C aufbewahrt werden musste (Lindsey 2009). Diese Eigenschaft zeichnet sie als hochgradig ungeeignet für eine längere Verweildauer in einer präbiotischen Welt aus. Zumindest kann ALA nicht in einer von Lindsey vorausgesetzten „warmen Welt“ als Ausgangsverbindung angenommen werden. Das entscheidende Problem ist jedoch die nicht einmal im Ansatz behandelte Fragestellung, wie porphinoide Verbindungen sich mit anderen Makromolekülen zu den eigentlich wirksamen biologischen Strukturen (Photosysteme, Hämoglobin, Porphyrin-haltige Enzyme) verknüpft haben könnten. Enzyme, die z. B. Häm-Einheiten enthalten, sind auf die Proteinhülle angewiesen, da anderenfalls die Spezifität der Reaktionen nicht gegeben wäre. Im Zusammenhang mit der Stoffwechsel-zuerst-Hypothese bezeichnete Orgel das Fehlen der Spezifität einfacher Vorgänger von späteren komplexeren Enzymen als das ungelöste Kernproblem (Orgel 2008): „Die größte Herausforderung für Verfechter von Metabolismus-zuerst-Hypothesen – die durch das Fehlen der Spezifität nichtenzymatischer Katalysatoren verursachten Probleme – sind generell nicht berücksichtigt worden.“1 Verknüpfende Reaktionen mit porphinoiden Verbindungen dürften allerdings ohne geeignete Katalysatoren äußerst schwer zu realisieren sein, da Porphyrine aufgrund ihrer hohen thermodynamischen Stabilität ausgesprochen reaktionsträge sind. Sie stellen folglich eher eine Sackgasse auf dem Weg zu komplexen biologischen Strukturen dar als eine realistische Zwischenstufe. Die Bildung porphinoider Verbindungen bedarf einer spezifischen Katalyse Zusammenfassend gesagt kann auf der Grundlage bisheriger Experimente kein schlüssiges Modell für die Entstehung porphinoider Verbindungen formuliert werden. Trotz ihrer thermodynamischen Stabilität bedarf es einer gezielten Steuerung der chemischen Reaktionen durch komplexe und spezialisierte Enzyme, damit aus einfachen Vorläufern wie ALA die Tetrapyrrole 1-3 gebildet werden können. Anmerkung 1„The most serious challenge to proponents of metabolic cycle theories – the problems presented by the lack of specifity of most nonenzymatic catalysts – has, in general, not been appreciated.“ Literatur Eschenmoser A (1988), Vitamin B12: Experimente zur Frage nach dem Ursprung seiner molekularen Struktur, Angew. Chem. 100, 5-40. Fischer H & Zeile K (1929), Synthese des Hämatoporphyrins, Protoporphyrins und Haemins, Justus Liebiegs Ann. Chem. 468, 98-116. Krol S (1959), A New Synthesis of Porphyrin, J. Org. Chem. 24, 2065–2067.Lewis CA & Wolfenden R (2008). Uroporphyrinogen decarboxylation as a benchmark for the catalytic proficiency of enzymes, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 105, 17328–33. Dogutan DK, Ptaszek M & Lindsey JS (2007), Direct Synthesis of Magnesium Porphine via 1-Formyldipyrromethane, J. Org. Chem. 72, 5008-5011. Lindsey JS et al. (2009), Simple Formation of an Abiotic Porphyrinogen in Aqueous Solution, Orig. Life Evol. Biosph. 39, 495-515. Lindsey JS et al. (2011), Abiotic formation of uroporphyrinogen and coproporphyrinogen from acyclic reactants, New J. Chem. 35, 65-75. Marks GS (1966), The biosynthesis of heme and chlorophyll, The Botanical Review 32.1, 56-94. Mauzerall D (1960), The condensation of porphobilinogen to uroporphyrinogen. J. Am. Chem. Soc. 82, 2605-2609. Orgel LE (2008), The Implausibility of Metabolic Cycles on the Prebiotic Earth, PLoS Biology 6, e18. Schaeffer P et al. (1993), Extraction of bound porphyrins from sulfur-rich sediments and their use for reconstruction of palaeoenvironments, Nature 364, 133. Willstätter R & Fischer M (1913), Untersuchungen über Chlorophyll XXIII. Die Stammsubstanzen der Phylline und Porphyrine, Justus Liebigs Ann. Chem. 400, 182-194. With TK (1975), Decarboxylation of Uroporphyrin by Heating at Atmospheric Pressure, Biochem J. 147, 249-251. Gastbeitrag von Boris Schmidtgall | ||
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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19.11.14 Evolution von Komplexität über Fehlentwicklungen? Können Missbildungen und Abnormitäten das Rohmaterial für eine Zunahme der Komplexität im Laufe von Evolution sein? Nach einem in Spektrum der Wissenschaft vorgestellten Modell einer „selektionsfreien Evolution“ soll dies tatsächlich möglich sein. Doch stellen sich einige Fragen, ob dieser Ansatz realistisch ist. Unter der Überschrift „Evolution ohne Selektion“ veröffentlichte der bekannte Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer in der viel gelesenen Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft im Mai 2014 einen Artikel über eine neue Idee, wie Komplexität im Laufe der hypothetischen Evolution entstehen könnte. „Evolution ohne Selektion“ ist als Schlagwort nicht neu; schon im Jahr 1988 veröffentlichte A. Lima-de-Faria ein Buch unter dem Titel „Evolution without selection“. Eine neue Grundidee zu „Evolution ohne Selektion“ wird im kurzen Intro-Text so zusammengefasst: „Nach Ansicht mancher Forscher können auch ohne Selektionskräfte komplexere biologische Strukturen und Lebewesen entstehen – quasi als Nebeneffekt von zunächst unbedeutenden Fehlentwicklungen.“ In den letzten Jahrzehnten wurde eine ganze Reihe neuer Ansätze entwickelt, mit denen man dem Problem Makroevolution – die Entstehung konstruktiver und funktioneller Neuheiten – zu Leibe rücken möchte (eine kurzgefasste Übersicht findet sich bei Cabej 2013, 249ff.). Das ist ein Indiz dafür, dass hier ein Problem gesehen wird; entgegen oft geäußerten Beteuerungen, die Frage nach den Evolutionsmechanismen sei im Wesentlichen beantwortet. Auch Zimmer (2014, 26) meint, im Großen und Ganzen bestätige die moderne Biologie Darwins Gedanken zur Entstehung von Komplexität, wonach neue Organe unter dem Wirken der natürlichen Auslese schrittwese aufgebaut würden. (Das zur Illustration angeführte Beispiel des Linsenauges ist dafür aber denkbar schlecht geeignet, vgl. Ullrich et al. 2006.) Doch sei fraglich, ob Komplexität immer auf solche Weise entsteht. Zum einen gebe es eine dem Leben innewohnende Tendenz zur Komplexitätssteigerung. Was das sein soll und woher diese kommt, wird allerdings nicht gesagt. Zum anderen soll eine Komplexitätssteigerung auch ohne Selektion als Nebeneffekt von Mutationen möglich sein. Das sind richtungslose Änderungen des Erbguts. Manchmal entstünden auf diese Weise „einfach so“ komplexe Phänomene. Das klingt zwar fast wie Zauberei, aber Zimmer nimmt hier Bezug auf das Buch „Biology’s First Law“ von McShea und Brandon (2010). Darin wird die Entstehung neuer Komplexität als eine Art „Gesetz“ gefasst, das sie als „zero-force evolutionary law“ bezeichnen, was man als „kraftfreies Evolutionsgesetz“ übersetzen kann. Getestet haben sie dieses Gesetz – so berichtet Zimmer weiter – an Laborstämmen der Taufliege Drosophila. Diese wurden dauerhaft rundum versorgt und hatten somit ein stressfreies Leben bzw. sind vergleichsweise wenig mit Selektionsdrücken konfrontiert. Anders als bei wild lebenden Populationen, die unterschiedlichen Selektionsfaktoren unterworfen sind, können bei Wegfall von Selektion Individuen mit Mutationen, die ihre Vitalität einschränken, überleben und werden nicht ausgemerzt. Denn gewisse Schäden durch Mutationen sind unter den günstigen Lebensbedingungen verkraftbar, während sie unter den härteren Freilandbedingungen nachteilig wären und die betreffenden Formen der Auslese zum Opfer fallen würden. Also müssten die Laborfliegen „allmählich komplexer geworden sein als ihre Artgenossen in der Wildnis“ (Zimmer 2014, 28) – so die Hypothese, weil sich mehr Mutationen ansammeln und weniger durch Auslese verloren gingen. McShea und seine Doktorandin Leonore Fleming haben die wissenschaftliche Literatur zu 916 Laborlinien der Taufliege nach „Missbildungen“ durchgeforstet und stießen dabei auf eine große Zahl von Abnormitäten, z. B. auf Tiere „mit ungleichen Beinen, mit ungewöhnlich gemusterten oder deformierten Flügeln oder mit ‚verkehrt‘ gebildeten Fühlern (Antennen) und so weiter.“ Diesen (eigentlich altbekannten) Befund werten die Forscher als Bestätigung dafür, dass die Fliegen bei Abwesenheit oder Minderung der Selektion komplexer geworden seien als ihre wild lebenden Verwandten und mithin als Beleg für ihre Hypothese. Zimmer untermauert diese Deutung mit einer Abbildung, in der eine deformierte Drosophila einer normalen gegenübergestellt wird und interpretiert dies in der Legende so: „In der Wildnis sind Taufliegen starken Anpassungszwängen ausgesetzt, die bei einer Laborhaltung wegfallen. Dadurch treten bei Laborstämmen auffallend viele Abweichungen von Körperstrukturen auf, die sich erhalten, weil sie den Tieren nicht schaden (rechts sind Beispiele zusammengestellt). Verglichen mit Wildformen (links) sind die Laborstämme nach Ansicht von Forschern komplexer“ (Zimmer 2014, 27). Man nimmt es verwundert zur Kenntnis, denn worin besteht überhaupt die Zunahme an Komplexität? Zugenommen hat die Vielfalt an unterschiedlichen Ausprägungen von Körpermerkmalen. Von diesen schränken aber viele die Vitalität des entsprechenden Individuums nachhaltig ein. Ist dann aber der Begriff „Komplexität“, verstanden als formale Steigerung der Vielfalt an Strukturen, überhaupt hilfreich, wenn keine Bewertung der neuen Vielfalt vorgenommen wird? Offenbar wird die größere Anzahl an gestaltlichen Ausprägungen als „Komplexitätszunahme“ bezeichnet, doch besteht kein Zweifel daran, dass es sich dabei um mehr oder weniger ausgeprägte Missbildungen handelt; Zimmer selbst spricht von „Abnormitäten“. In Bezug auf die eigentlich relevante Frage nach einer Erklärung für die Entstehung evolutionärer struktureller oder funktionelle Neuheiten wird dagegen mit diesen Befunden nichts gewonnen. Kritik Zimmer erwähnt denn auch in seinem Spektrum-Artikel einige Kritiker dieses Konzepts, die noch andere Einwände bringen. So weist der Paläontologe Douglas Erwin darauf hin, dass auch bei den umhegten Drosophila-Fliegen in vielerlei Hinsicht Selektion massiv wirke und dass schon bei der Larvalentwicklung hunderte Gene genau aufeinander abgestimmt sein müssten, damit die Gewebe und Organe sich funktionsfähig entwickeln könnten. Hier seien schon kleinere Störungen meist tödlich; sie werden durch die so genannte „innere Selektion“ ausgemerzt (auch im Labor sterben viele Drosophila-Mutanten während der Embryonalentwicklung aufgrund von Mutationen). Auch die Handhabung des Begriffs „Komplexität“ wird von manchen kritisch gesehen. McShea und Brandon entgegnen – so Zimmer (2014, 29) –, sie würden „eine Komplexität betrachten, aus der die andere Komplexität erwachsen könne. Die bei Drosophila beobachteten Veränderungen stellten Ausgangsmaterial für mögliche anschließende Selektionsprozesse dar – seien also eine Grundlage, aus der dann funktionale komplexe Strukturen entstehen könnten, die dem Überleben dienten.“ Doch das ist bestenfalls Hoffnung, kein Ergebnis von Experimenten. Und ob sich diese Hoffnung, gewisses „Ausgangsmaterial“ – und zwar ausgerechnet mehr oder weniger stark ausgeprägte Missbildungen – könne Grundlage für später entstehende neue funktionale Strukturen sein, muss erst noch geprüft werden. Aber die Qualität des Ausgangsmaterials nach dem „zero-force evolutionary law“ gibt nicht zu Hoffnung Anlass, dass es sich dabei um Startrampen für echte evolutionäre Neuheiten handeln könnte (wobei mit „echt“ neue funktionale Strukturen gemeint sind, die auch nicht latent angelegt waren). Dennoch wird dieser Ansatz auch im molekularen Bereich verfolgt. Zimmer berichtet vom Beispiel der V-ATPase, einer speziellen, aus mehreren Molekülen zusammengesetzten Protonenpumpe, die Ionen durch Zellmembranen schleust. Zur V-ATPase gehört ein Ring aus sechs Proteinen, der bei Hefen aus drei verschiedenen Proteinen besteht (vier Vma3- und je ein Vma11- und Vma16-Protein). Bei Tieren enthält der Sechserring dagegen nur zwei verschiedene Proteine (fünf Vma3- und ein Vma16-Protein). Diese Unterschiede werden evolutionstheoretisch darauf zurückgeführt, dass sich früh in der Evolution der Pilze eine Genverdoppelung ereignete. Eines der beiden Gene wurde später zum Gen für das Vma11-Protein. Man könnte die V-ATPAse der Pilze als komplexer betrachten, weil es aus drei verschiedenen Vma-Proteinvarianten besteht. Der Weg dahin – ausgehend von zwei Varianten – kann modellhaft als selektionsfrei dargestellt werden, was das Modell einer selektionsfreien Zunahme von Komplexität stützen würde. Aber abgesehen davon, dass die Komplexitätszunahme sehr geringfügig ist, wird sie damit erkauft, dass zwei der drei V-ATPase-Proteine der Pilze nicht so vielseitig verknüpfbar sind wie die entsprechenden Proteine der Pumpe bei den Tieren. Insgesamt kann daher kaum von einer Komplexitätszunahme die Rede sein. Fazit Gemessen am Erklärungsziel einer Komplexitätszunahme mit neuer Struktur und Funktion von Organen, Stoffwechselkaskaden oder molekularen Maschinen sind die im Artikel von Zimmer erwähnten Beispiele in keiner Weise beweiskräftig. Geringfügige, z. T. nur hypothetische Änderungen oder regelrechte Missbildungen können nicht als Rohmaterial für evolutionäre Neuheiten interpretiert werden. Eine nicht mehr ganz so neue Idee, die anhand der gewählten Beispiele nicht überzeugend präsentiert wird, wird hier mit umfangreichen Hoffnungen verknüpft. Ob diese sich zukünftig erfüllen werden, wird sich zeigen müssen. Literatur Cabej N (2013) Building the most complex structures on earth. An epigenetic narrative of development and evolution of animals. Amsterdam: Elsevier. Ullrich H, Winkler N & Junker R (2006) Zankapfel Auge. Ein Paradebeispiel für „Intelligent Design“ in der Kritik. Stud. Integr. J. 13, 3-14. Zimmer C (2014) Evolution ohne Selektion. Spektr. Wiss., Mai 2014, 26-31. | ||
10.10.14 Abdominalknochen der Wale: Das Ende eines rudimentären Organs Im Hinterleib der Wale und Delfine stecken paarige Knochen, die gewöhnlich als evolutionär bedingte Reste eines früheren Beckens von Landsäugetieren interpretiert werden. Beispiele wie diese werden oft auch als Argumente gegen Schöpfung verwendet. Dass diese Abdominalknochen nicht funktionslos sind, weil sie die Muskulatur der Geschlechtsorgane unterstützen, ist schon lange bekannt. Eine neue Studie offenbart darüber hinaus artspezifische Anpassungen, aus denen geschlossen werden kann, dass diese Knochen nicht als bloße Rückbildungen interpretiert werden können – erneut das Ende eines rudimentären Organs. „Rudimentäre Organe“ spielen traditionell eine wichtige Rolle als Indizien für Evolution. Solche Organe gelten als rückentwickelt und funktionsschwach (oder sogar funktionslos) und werden einerseits als Belege für eine degenerative Evolution gewertet, andererseits vor allem als Argumente gegen eine planvolle Schöpfung ins Feld geführt: Ein Schöpfer würde keine unnützen Organe erschaffen; gibt es sie doch, spreche das gegen einen Schöpfer und damit für Evolution. Bereits Darwin hat auf diese Weise argumentiert.1 Dieses Argument ist aus mehreren Gründen fragwürdig (Junker 2002, Kapitel 6); es verliert aber besonders dann an Kraft, wenn eine für die vorhandene Struktur angemessene Funktion nachgewiesen werden kann. Denn spätestens dann ist die Behauptung hinfällig, es gebe „Pfusch am Bau“. Ein Klassiker unter den rudimentären Organen sind die Abdominalknochen der Walartigen. Dabei handelt es sich um paarige Knochen, die sich ohne Verbindung zur Wirbelsäule im Hinterleib der Wale und Delfine befinden. Es wird gemeinhin argumentiert, dass auf dem evolutiven Weg vom Land ins Wasser die Knochen des ehemaligen Beckens und der Hinterbeine ihre Funktion verloren und sich zum heute noch vorhandenen Rest in Form der Abdominalknochen zurückgebildet hätten. Dass die Abdominalknochen nicht funktionslos sind, ist schon länger bekannt (Yablokov 1974; Arvy 1976, Behrmann 1994). Sie unterstützen unter anderem die Muskeln, die den sehr beweglichen Walpenis kontrollieren, und sind daher überlebenswichtig. Entsprechend zeigen sie einen Sexualdimorphismus, d. h. sie sind bei Männchen und Weibchen unterschiedlich ausgebildet. Eine neuere Untersuchung (Dines et al. 2014) unterstützt bisherige Befunde. Die Forscher untersuchten bei 130 Wal-Individuen aus 29 Arten Größe und Form der Abdominalknochen im Zusammenhang mit dem Paarungsverhalten.2 Dabei fanden sie heraus: 1. Männchen von Arten, bei denen es eine starke sexuelle Selektion gibt (die aus der relativen Größe der Hoden abgeleitet wird), besitzen einen relativ großen Penis und entsprechend einen relativ großen Abdominalknochen im Vergleich zur Körpergröße. 2. Die Form der Abdominalknochen zweier Arten ist umso verschiedener, je unterschiedlicher ihr Paarungsverhalten ist. Bei Rippenknochen, die als Referenz ebenfalls untersucht wurden, fanden sich diese Zusammenhänge nicht. Die Abdominalknochen können somit nicht als Reste bzw. Rudimente interpretiert werden, denn sie zeigen artspezifische Unterschiede und teilweise sogar eine relative Vergrößerung, was die Forscher evolutionär auf eine unterschiedlich stark ausgeprägte sexuelle Selektion zurückführen.3 Sie weisen am Ende ihres Artikels die Einstufung der Abdominalknochen der Wale als funktionslose Reste zurück; vielmehr seien sie eine kritische Komponente für die Fitness der Männchen und evtl. auch der Weibchen (Dines et al. 2014).4 Angesichts dieser Befunde macht es keinen Sinn mehr, die Abdominalknochen der Wale als Rudimente zu klassifizieren – es sei, denn man ändert die Definition für „rudimentäres Organ“: So schlägt Stephanie Keep vor, dann von Rudimentation zu sprechen, wenn die ursprüngliche Funktion verloren gegangen ist.5 Das aber führt zu einem inflationären Gebrauch des Begriffs „Rudiment“; selbst die Arme und Beine von Vierbeinern wären dann „rudimentär“. Vor allem aber ist die geänderte Definition nur anwendbar, wenn man Evolution und einen bestimmten Evolutionsverlauf voraussetzt; das Organ selber liefert keinen objektiven Anhaltspunkt für eine Rückbildung. Das Beispiel der Abdominalknochen der Walartigen zeigt einmal mehr, dass zunehmende Kenntnisse über Form-/Funktions-Zusammenhänge die Liste mutmaßlicher rudimentärer Organe verkleinern. Aus dieser Liste musste kürzlich auch der Wurmfortsatz des Blinddarms endgültig gestrichen werden (vgl. Ullrich 2013). Anmerkungen 1 „On the view of each organism with all its separate parts having been specially created, how utterly inexplicable is it that organs bearing the plain stamp of inutility... should so frequently occur“ (in: On the origin of species). 2 „Here we create a novel morphometric pipeline to analyze the size and shape evolution of pelvic bones from 130 individuals (29 species) in the context of inferred mating system“ (Abstract). 3 „This study provides evidence that sexual selection can affect internal anatomy that controls male genitalia“ (Abstract). 4 „Importantly, our study rejects a common assumption (mostly among non-cetacean biologists) that cetacean pelvic bones are “useless vestiges” (Curtis and Barnes 1989), and instead suggest they are a critical component of male, and possibly female, reproductive fitness.“ 5 http://ncse.com/blog/2014/09/well-said-carl-zimmer-persistence-whale-hip-bones-0015864 Literatur Arvy L (1976) Some critical remarks on the subject of the cetacean „girdles“. In: Pilleri G (ed) Investigations on Cetacea. Vol. VII. Bern. Behrmann G (1994) Die Bewegungskoordination des Penis während der Kopulation beim Schweinswal Phocoena phocoena (Linné 1758). Säugetierkd. Inf. 3, 611-616. Dines JP, Otárola-Castillo E, Ralph P, Alas J, Daley T, Smith AD & Dean MD (2014) Sexual selection targets cetacean pelvic bones. Evolution,doi: 10.1111/evo.12516 Junker R (2002) Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen. Design-Fehler oder Design-Signale? Studium Integrale. Holzgerlingen. Ullrich H (2013) Der Wurmfortsatz: Vom Nichtsnutz zum Mysterium. Stud. Integr. J. 20, 111-115. Yablokov AV (1974) Variability of mammals. Amerind Publishing Co. Pvt. Ltd., New Delhi. | ||
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Re: wissenschaftliche Hintergründe zum Ursprung des Lebens
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09.12.14 „Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie?“ Unter der Fragestellung „Does evolutionary theory need a rethink?“ erschien Anfang Oktober in der Wissenschaftszeitschrift Nature ein Pro und Contra zweier Gruppen von Wissenschaftlern. Ende November wurde eine deutsche Übersetzung veröffentlicht.1 Die Auseinandersetzung zeigt, dass es nicht die eine, alles erklärende Evolutionstheorie gibt, sondern eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die zum Teil miteinander konkurrieren oder gar einander ausschließen. Manche Ansätze laufen darauf hinaus, dass eine Zielorientierung angenommen werden muss. Das erinnert an den Design-Ansatz, doch die Quellen für Zielsetzungen werden in den Lebewesen gesucht, während ein willensbegabter geistiger Urheber tabu ist. Als im Jahr 1959 das hundertjährige Jubiläum von Charles Darwins Evolutionstheorie gefeiert wurde, galten die wesentlichen Fragen der Evolutionsforschung als geklärt. Dazu gehörte auch der auf Darwin zurückgehende Mechanismus von Variation und Selektion (natürliche Auslese), der als rein natürlicher Prozess verstanden wird und gleichsam naturgesetzmäßig verlaufen soll. Die Variationen innerhalb von Arten entstehen demnach durch Mutationen, das sind Änderungen des Erbguts, die richtungslos in Bezug auf potentielle Ziele verlaufen (und in diesem Sinne zufällig sind). Die durch Mutationen entstandenen Varianten bilden das Rohmaterial, das der Selektion zur Verfügung steht. Bei Überproduktion der Nachkommen gelangt tendenziell nur der bestangepasste Teil selbst zur Fortpflanzung und kann seine Merkmalsausprägungen an die nächste Generation weitergeben. Dieses Wechselspiel von Zufallsvariation (Mutation) und Auslese (Selektion) soll im Laufe großer Zeiträume dafür sorgen, dass Arten sich nicht nur an wechselnde Umweltbedingungen anpassen, sondern letztlich auch neue Baupläne mit völlig neuen Bauelementen entstehen.2 Seit den 1930er und 1940er Jahren hatte sich die Synthetische Evolutionstheorie etabliert und war viele Jahrzehnte ziemlich unangefochten. Deren Szenario war weitgehend Konsens im Jahr 1959 und im Großen und Ganzen bestimmt diese Sicht die öffentliche Darstellung des evolutionären Prozesses bis in unsere Zeit. Doch diese Situation hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Eine Fülle neuer Ansätze für kausale Evolutionstheorien wurde in die Diskussion eingebracht und viele Fachartikel beginnen mit der Feststellungen wie: „... we have made relatively little progress in understanding how novel traits come into being in the first place“ (Moczek 2008, 432) oder: „How body pattern evolves in nature remains largely unknown“ (Cleves et al. 2014, 13912). Diese Einschätzungen überraschen, da doch schon vor über 50 Jahren häufig zu lesen und zu hören war, die Frage nach den Evolutionsmechanismen sei im Wesentlichen geklärt. Offenbar ist einer wachsenden Zahl von Biologen bewusst geworden, dass mit den einst als vollständig erachteten kausalen Faktoren der Synthetischen Theorie nichts wirklich Neues zustande kommt. Evolution, als naturgeschichtlicher Prozess, aber gilt dessen ungeachtet als nicht hinterfragbare Tatsache. Also muss nach neuen Wegen gesucht werden, auf denen u. a. die Entstehung neuer Baupläne verlaufen konnte. Eine Gruppe von Evolutionsbiologen sieht nach wie vor keinen Grund zu einem grundsätzlichen Umdenken in der Frage nach den Triebfedern und Mechanismen der Evolution. Andere dagegen fordern eine deutliche Erweiterung bisheriger Theorien. Mittlerweile haben sich in dieser Frage verschiedene Lager gebildet. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man ein Pro und Contra verfolgt, dass die Wissenschaftszeitschrift NatureAnfang Oktober veröffentlicht hat (Laland et al. 2014, Wray et al. 2014). Eine Gruppe, vertreten durch acht Wissenschaftler meint, die Evolutionstheorie brauche dringend ein Umdenken, es sei eine Erweitere Evolutionäre Synthese (EES) unter Einbeziehung bisher vernachlässigter Disziplinen erforderlich (Pro-Gruppe). Das sei kein Sturm im Wasserglas, sondern ein Kampf um die Seele der Evolution. Sieben Wissenschaftler, die die traditionelle Sicht vertreten (Contra-Gruppe), halten dagegen: Mit der (kausalen) Evolutionstheorie sei alles in Ordnung. Das verfügbare Wissen, dass die Pro-Gruppe einfordere, sei schon berücksichtigt oder ließe sich auch in Zukunft in den bekannten Rahmen einfügen. Es gebe keinen Anlass für eine Neukonzeption. Vier Bausteine für eine Erweiterte Evolutionäre Synthese Die Pro-Gruppe nennt vier Aspekte, die nach ihrer Auffassung in der Standard-Evolutionstheorie nicht als Evolutionsfaktoren berücksichtigt, sondern als deren bloße Folge angesehen würden: • Der genzentrierte Ansatz (Genänderungen als Initialzündungen) müsse ergänzt werden durch die Berücksichtigung zahlreicher Wechselwirkungen mit äußeren und inneren Einflüssen während der ontogenetischen Entwicklung. Diese führen u. a. zu Einschränkungen der Entwicklungsrichtungen („developmental bias“, Entwicklungszwänge) und begrenzen damit mögliche Variationen von Merkmalsausprägungen ein Stück weit (es erfolgt quasi eine Kanalisierung), bevor die Umweltselektion wirkt. • Die Umweltbedingungen haben nicht nur eine passive Rolle als Selektionsfaktoren, vielmehr werde die Umwelt durch die Lebewesen aktiv mitgestaltet (Nischenkonstruktion); dadurch beeinflussen die Lebewesen selbst auch ihre eigene Evolution. • Durch die Plastizität der Lebewesen (Änderungen infolge von Umweltreizen – ohne Genänderungen!) sei eine schnelle Anpassung und sogar die Offenlegung bisher verborgener Merkmale möglich, die nachfolgend durch Genvariationen (Mutationen) dauerhaft sichtbar fixiert werden können. • Extragenetische Veränderungen (Epigenetik) in der Gen-Regulation könnten wie die Gene selber ebenfalls vererbt werden und Einfluss auf Evolution nehmen. Die Contra-Fraktion hält dagegen, dass die genannten vier Phänomene zwar tatsächlich bedeutende evolutionäre Prozesse und Gegenstand ihrer eigenen Forschungen seien, dass sie aber nicht dermaßen in den Fokus gerückt werden müssten, dass die Einführung einer neuen Bezeichnung wie „Erweiterte Synthese in der Evolutionstheorie“ gerechtfertigt sei. Es treffe nicht zu, dass diese Faktoren in der Standard-Evolutionstheorie vernachlässigt würden. Vielmehr gebe es nur neue Namen für alte Konzepte. Von der Standard-Evolution werde durch die Vertreter der EES eine Karikatur gezeichnet. Weiter sei es verfehlt, eine Gen-Zentriertheit zu kritisieren, denn Veränderungen im Erbgut hätten einen wesentlichen Anteil an Anpassung und Artbildung, was in vielen Fällen auch genau belegt sei (z. B. Antibiotikaresistenzen oder Laktosetoleranz beim Menschen). Es sei außerdem nicht geklärt, ob die Plastizität genetische Variationen im Rahmen des Adaptationsprozesses tatsächlich steuern bzw. fixieren kann. Ebenso sei die Rolle der Entwicklungszwänge (developmental bias) auf die Evolution adaptiver Merkmale schwer zu bestimmen. Schließlich gebe es keine stichhaltigen Beweise für eine tragende Rolle vererbter, epigenetischer Modifikationen auf evolutionäre Anpassung. In den vier o. g. Phänomenen sieht die Contra-Gruppe daher lediglich Erweiterungen der bislang favorisierten zentralen Prozesse des evolutionären Wandels (natürliche Selektion, Drift, Mutation, Rekombination und Genfluss). Die neu eingeforderten Mechanismen seien allesamt nicht essentiell für die Evolution, sondern modifizieren lediglich die bekannten Erklärungen für evolutionäre Prozesse unter gewissen Umständen. Kommentar Diese Auseinandersetzung zeigt, dass es entgegen vieler öffentlicher Verlautbarungen nicht die eine, alles erklärende Evolutionstheorie gibt, sondern eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen, die zum Teil miteinander konkurrieren oder gar einander ausschließen (vgl. dazu Ullrich 2010). Diese Situation resultiert aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und dokumentiert an sich einen normalen innerwissenschaftlichen Prozess. Die Brisanz ergibt sich in diesem Fall aus dem Forschungsgegenstand Evolution. Evolution wird einerseits als historisches Faktum vorausgesetzt, konnte andererseits aber auch über 150 Jahre nach Darwin bisher kausal nicht erschlossen werden. Eine Reihe von Wissenschaftlern hält beim gegenwärtigen Wissensstand die Standard-Evolutionstheorie für so ungenügend, dass sie eine substantielle Erweiterung für erforderlich halten. Die Frage nach den Mechanismen erscheint weniger klar denn je. Die Vielfalt neuer Ansätze ist genau dafür ein gewichtiges Symptom. Es wäre wichtig, wenn dieser Aspekt stärker auch ins öffentliche Bewusstsein treten und bei der Debatte um Schöpfung und Evolution Berücksichtigung finden würde. Ob die Lösungsansätze der Pro-Gruppe erfolgversprechend sind, ist bislang zweifelhaft, und zwar aus folgenden Gründen. Zwei der vorgeschlagenen Ansätze – die Berücksichtigung der Plastizität und der epigenetischen Vererbung für Erklärungen evolutionärer Innovationen – ermöglichen für sich alleine gar keine Evolution, da nach bisheriger Kenntnis die betreffenden Änderungen jederzeit rückgängig gemacht werden können und in der Regel nicht stabil (oder gar nicht) an die nächsten Generationen weitergegeben werden. In beiden Fällen handelt es sich um Änderungen, die zunächst in irgendeiner Form – ausgelöst durch Umweltreize – abgerufen werden und keine Änderungen im Erbgut beinhalten. Bei erneuten Änderungen dieser Umweltreize ändern sich aber auch die betreffenden Merkmalsausprägungen und fallen z. B. in den vorherigen Zustand zurück. Was ist dann für die Evolution gewonnen? Aufgrund von Umweltreizen oder epigenetisch gesteuerte Veränderungen müssen also nachfolgende Merkmalsvarianten durch passende Mutationen gleichsam festgehalten (fixiert) werden, und diese müssen dann sich in „klassischer Weise“ in den Populationen durchsetzen. Die Kritik der Contra-Gruppe ist an dieser Stelle daher verständlich. Die Mutmaßung, dass durch plastische Reaktionen konstruktive Neuheiten entstehen können, ist experimentell nicht nachvollzogen und auch theoretisch sehr unwahrscheinlich. Eine Zusammenfassung der Ansätze findet sich bei Junker (2014). Beide Faktoren – Plastizität und Epigenetik – sind aber aus einerSchöpfungsperspektive sehr interessant, ermöglichen sie doch den Lebewesen eine weitreichende Anpassungsfähigkeit und enorme Flexibilität bei wechselnden Umweltbedingungen (Näheres bei Junker 2014). Dass ontogenetische Entwicklungszwänge evolutionär weiterhelfen sollen, ist ebenfalls fragwürdig. Denn Entwicklungszwänge und kanalisierende Randbedingungen während der Ontogenese „filtern“ zwar einerseits unpassende bzw. inkompatible Veränderungen aus, so dass nur ein Teil der potentiell möglichen Veränderungen eine Ausprägung im Erwachsenenalter erfährt – damit erfolgt eine interne Vorselektion der neuen Varianten. Aber weshalb soll andererseits dies dazu beitragen, dass neue Formen entstehen? Durch den Verweis auf ontogenetische Entwicklungszwänge wird nur ein problematischer Aspekt der Standard-Evolutionstheorie entschärft, nämlich die Zufälligkeit der Veränderungen des der Evolution zur Verfügung stehenden „Rohmaterials“. In dieser Zufälligkeit wird offenbar ein Problem gesehen, aber die vorgeschlagenen Lösungen helfen nicht in Bezug auf die Entstehung von Neuheiten. Ähnliche Kritik kann man beim Faktor „Nischenkonstruktion“ formulieren. Design in der Natur Bemerkenswert ist im Beitrag der Pro-Gruppe ein Satz über den Design-Ansatz („Intelligent Design“). Die Autoren mutmaßen, dass „die Evolutionsbiologen auch – gejagt vom Schreckgespenst des Intelligent Design – eine geschlossene Front gegenüber wissenschaftsfeindlichen Ansätzen bilden“ möchten. Diese Befürchtung ist berechtigt (nicht aber die Unterstellung der Wissenschaftsfeindlichkeit). Denn die Mängel der Standard-Evolutionstheorie begünstigen eben auch ganz alternative Ansätze wie den Design-Ansatz und zwar genau aus dem Grund, weshalb die Pro-Gruppe nach neuen naturalistischen Ansätzen sucht: Es braucht eine wie auch immer geartete Steuerung: Plastizität, Epigenetik, Entwicklungszwänge und Nischenkonstruktion haben nämlich in den Augen der Pro-Gruppe eines gemeinsam: Man sieht Bedarf an der Eindämmung des Zufalls und an gezielterAnpassung; die Umweltselektion wird dafür als nicht ausreichend erachtet. Im Grunde genommen werden mit diesen Ansätzen Zielorientierungen eingeführt; die sich aus dem Organismus selbst heraus ergeben sollen. Das aber stützt eine Art Design-Ansatz, mit der paradoxen Besonderheit, auf eine intentionale (willensbegabte) geistige Quelle zu verzichten. Die Integration einer intentionalen geistigen Quelle als Erklärungsoption für das Sosein des Lebens ist im wissenschaftlichen Mainstream nämlich tabu. Man wird also weiterhin natürliche Mechanismen suchen und auf den Prüfstand stellen, um rein natürliche, blinde, nichtgeistige Naturprozesse aufzuspüren, die kreativ sein sollen. Der Naturwissenschaft wird diese Vorgehensweise sicherlich weitere und unerwartete Erkenntnisse liefern. Ob diese uns jedoch der Antwort nach den Ursachen und Mechanismen der hypothetischen Evolution näher bringen, darf mit Blick auf die Geschichte bezweifelt werden. Die Frage nach einem Schöpfer stellt sich also auch weiterhin, nicht weil die Naturwissenschaft versagt, sondern weil zu erwarten ist, dass der durch sie generierte Wissenszuwachs weiterhin Hinweise auf die Existenz einer geistigen Verursachung des Lebens liefern wird. Quellen Cleves PA, Ellis NA, Jimenez MT, Nunez SM, Schluter D, Kingsley DM & Miller CT (2014) Evolved tooth gain in sticklebacks is associated with a cis-regulatory allele of Bmp6. Proc. Natl. Acad. Sci. 111, 13912-13917. Junker R (2014) Plastizität der Lebewesen: Baustein der Makroevolution? www.wort-und-wissen.de/artikel/sp/b-14-2-plastizitaet.pdf Laland K et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? Yes, urgently. Nature 514, 161-164. Moczek AP (2008) On the origins of novelty in development and evolution. BioEssays 30, 432-447. Ullrich H (2010) Evolution und Evolutionstheorien. Irrtümliche Selbstverständnisse und Fehldarstellungen naturalistischer Ursprungsmodelle. Stud. Integr. J. 17, 76-87. Wray G et al. (2014) Does evolutionary theory need a rethink? No, all is well. Nature 514, 161-164. Anmerkungen 1 http://www.spektrum.de/news/brauchen-wir-eine-neue-evolutionstheorie/1320620 2 „Das Endresultat der natürlichen Selektion ist es, dass jede Kreatur dahin strebt, im Verhältnis zu den Bedingungen, in denen sie lebt, immer vollkommener zu werden. Diese Verbesserung führt unvermeidlich zu einem Fortschritt in der Organisation der meisten Lebewesen“ (Charles Darwin: Über den Ursprung der Arten. London, 1859). | ||
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